Evidenzbasierte psychologische Interventionen zur Symptomlinderung und zur Verbesserung der Lebensqualität bei Patienten mit Reizdarmsyndrom (RDS)

„Attention to pain in irritable bowel syndrome and the role of attentional biases in the treatment of irritable bowel syndrome with mindfulness therapy”

Aufgabenstellung der Studie

Reizdarmsyndrom (RDS) ist eine chronische Störung der bidirektionalen Interaktion entlang der Gehirn-Darm-Achse 1 bei der ein komplexes Zusammenspiel von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren zum Symptombild beiträgt 2–4. Da RDS mit den zur Verfügung stehenden Therapieformen häufig unzulänglich behandelt wird, und oft eine organische Ursache nicht festgestellt werden kann 4, ist es zum einen notwendig die psychologischen Faktoren besser zu verstehen und zum anderen das Wissen über diese Faktoren zu nutzen um die heutigen Therapieverfahren zu verbessern. Ziel dieses Promotionsprojektes war es zu prüfen, ob Patienten mit Reizdarmsyndrom veränderte kognitive Aufmerksamkeitsprozesse aufweisen und auf Basis dieses Wissens und der bestehenden fachlichen Literatur ein neues achtsamkeitsbasiertes Behandlungsprotokoll zu entwerfen. Teil dieser Aufgabenstellung war zu prüfen, ob die therapeutische Behandlung mit Achtsamkeitsbasierter Kognitiver Therapie für RDS (Mindfulnes-Based Cognitve Therapy for IBS, MBCT for IBS) die relevanten kognitiven Prozesse modifiziert, und ob infolgedessen die RDS-Symptomschwere reduziert, sowie die Lebensqualität erhöht wird. Es wurden im Rahmen des Promotionsprojektes drei Studien sorgfältig geplant und durchgeführt. Die Methodik und Ergebnisse werden in den folgenen Abschnitten aufgeführt.

Bericht zur Methode

Studie 1: Cognitive and Emotional Factors in Illness and Health
Erstes Ziel dieser Studie war zu prüfen, ob Patienten mit RDS im Vergleich zu gesunden Probanden ein implizit verändertes Verhältnis zu Gesundheit und Krankheit aufweisen und ob diese Veränderung mit der Symptomschwere in Verbindung steht. Zweites Ziel war es zu testen, ob Patienten mit RDS eine geringere Aufmerksamkeitskontrolle haben und ob diese mit der Anzahl an dysfunktionalen RDS Kognitionen zusammenhängt. Bei dieser Studie handelt es sich um eine Patientenstudie mit einer Gruppe von 42 RDS Patienten und einer Gruppe von 41 gesunden Kontrollprobanden im Querschnittdesign. Das implizite Verhältnis zu Gesundheit und Krankheit so wie die Aufmerksamkeitskontrolle wurden mit Reaktionszeittests mit Millisekundenpräzision gemessen.

Studie 2: Time Course of Cognitive Changes
In dieser kontrollierten, quasi- experimentellen Studie wurde untersucht, ob Achtsamkeitsmeditation in gesunden Versuchspersonen die Aufmerksamkeitssteuerung erhöhen kann. Einundreißig gesunde Probanden, die an einem achtwöchigen Achtsamkeitskurs teilnahmen, wurden während des Kurses wöchentlich auf ihre Aufmerksamkeitskontrolle getestet. Eine im Alter, Geschlechteranteil und Bildungsniveau passende Kontrollgruppe, welche nicht an dem Achtsamkeitskurs teilnahm, führte die Tests gleichermaßen durch. Zusätzlich wurden wöchentlich in beiden Gruppen Daten zur selbst-eingeschätzten Konzentration aufgenommen.

Studie 3: Mindfulness for IBS
Bei der dritten Studie handelt es sich um eine Interventionsstudie. Diese Studie hat drei Abschnitte. Im ersten Abschnitt wurde das Behandlungsprotokoll „Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie für RDS“ (MBCT for IBS) auf Basis der bestehenden Literatur und der Ergebnisse der ersten zwei Studien dieses Promotionsprojekts entwickelt. Ziel dieser Behandlungsform ist es zur Symptomlinderung zu führen und die Lebensqualität zu verbessern.

Im zweiten Abschnitt wurden 67 Patienten mit RDS in einer randomisierten, kontrollierten klinischen Studie der Behandlungs- oder Wartelistegruppe zugeteilt. Aufmerksamkeitsprozesse (das implizite Verhältnis zu Krankheit und Gesundheit, Aufmerksamkeitssteuerung), kognitive psychologische Faktoren, Symptomschwere und Lebensqualität wurden vor, während und nach der Therapie in beiden Gruppen gemessen. Die Therapie wurde in dieser Form noch nicht für Reizdarmsyndrom angewendet und wurde nun erstmals wissenschaftlich geprüft.

Der dritte Teil dieser Studie befasste sich mit den Wirkungsmechanismen von ‚MBCT for IBS‘. Hierzu wurde eine Mediationsstudie in die Hauptstudie eingebettet. Anhand einer regressions-basierten Mediationsanalyse wurde der Einfluss von Veränderungen der psychologischen Faktoren auf Veränderungen in der RDS-Symptomschwere gemessen.

Ergebnis der Studie

Studie 1: Cognitive and Emotional Factors in Illness and Health
Die Auswertung der Daten ergab, dass sich Patienten mit RDS im Vergleich zu gesunden Probanden implizit von einem gesunden Zustand abwenden 5. Das Verbinden der eigenen Identität mit dem kranken Zustand wird als nachteilige Adaption angesehen, da es den Fokus auf die Symptome lenkt, dadurch die Wahrnehmung der Symptome erhöht wird und dies zu einem größeren (unnötigen) psychologischen Leiden führen kann 6. Patienten mit einer größeren impliziten Diskrepanz zwischen ihrer Identität und dem gesunden Zustand wiesen eine höhere Anzahl an zusätzlichen somatischen Symptomen wie zum Beispiel Kopfschmerzen oder Übelkeit auf, jedoch korellierte die RDS-Symptomschwere nicht mit dem Grad der Gesundheitsidentität.

Die Ergebnisse der Studie zeigten auch, dass RDS Patienten im Vergleich zu der gesunden Kontrollgruppe ein Defizit an Aufmerksamkeitssteuerung haben 7. Zusätzlich wies die RDS Patientengruppe mit dem höchsten Defizit an Aufmerksamkeitssteuerung auch einen höheren Anteil an katastrophalen Gedanken über den Verlauf der Symptome und deren Auswirkungen auf das Berufs- und Privatleben auf.

Die Ergebnisse aus Studie 1 wurden bereits in internationalen wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert (siehe Publikationen).

Studie 2: Time Course of Cognitive Changes
Die Auswertung der Daten ergab, dass sich eine Verbesserung der Aufmerksamkeitssteuerung bereits nach den ersten zwei Wochen eines achtwöchigen Meditationsprogramms feststellen lässt. Zusätzlich sagt die Veränderung der Aufmerksamkeitskontrolle nach zwei Wochen Achtsamkeitstraining eine Verbesserung der Konzentration am Ende des Kurses voraus. Die Ergebnisse wurden in einem Kapitel der Dissertation festgehalten und haben das Design der dritten Studie maßgeblich beeinflusst. Derzeit werden die Ergebnisse für die Publikation in einer wisseschaftlichen Zeitschrift vorbereitet.

Studie 3: Mindfulness for IBS
In diesem Projekt wurde ein sechswöchiger MBCT Kurs für Patienten mit RDS entworfen (MBCT for IBS). Das Behandlungsprotokoll beinhaltet sechs 2-stündige, wöchentliche Behandlungssitzungen. Jede Behandlungssitzung besteht aus auf einander aufbauender kognitiv-behavioraler Psychoedukation und Achtsamkeitsmeditation. Im Grunde besteht das Ziel darin, über ein achtsames Bewusstsein die Wirkung psychologischer Faktoren auf die Hirn-Darm-Achse positiv zu beeinflussen und so zur Symptomlinderung zu führen.

Die Ergebnisse der Intention to Treat (ITT) Analyse zeigten, dass die Behandlung mit ‚MBCT for IBS‘ zu einer Symptomlinderung von 11% direkt im Anschluss an die Behandlung führte. Sechs Wochen nach Behandlungschluss stieg die Symptomlinderung auf 20%. Die Lebensqualität verbesserte sich um 21% (direkt nach der Behandlung), beziehungsweise um 26% (nach sechs Wochen). Die Mediationsanalysen zeigten, dass die Symptomlinderung teilweise auf eine Veränderung der kognitiven Faktoren rückzuführen ist. Besonders hervorzuheben ist, dass Veränderungen in der viszeralen Hypervigilanz und dem „Paincatastrophizing“ der Symptomlinderung vorrausgehen und sie diese vorraussagen. Patienten des MBCT for IBS Kurses wiesen keine Veränderung der Aufmerksamkeitssteuerung auf, jedoch zeigte sich, dass bereits nach zwei Wochen mit dieser Behandlungsform signifikante Unterschiede in der impliziten Identifizierung mit dem gesunden Zustand stattfanden. Diese Ergebnisse sind in mehreren Kapiteln der Dissertation festgehalten und werden zur Publikation in wissenschaftlichen Zeitschriften vorbereitet.

 


Publikationen:

Henrich, J. F., Gjelsvik, B., & Martin, M. (2018). Implicit Identification with Illness in Patients with Irritable Bowel Syndrome (IBS). Cognitive Therapy and Research, 42(3), 328–339.
http://doi.org/10.1007/s10608-017-9888-z

Henrich, J. F., & Martin, M. (2018). Altered attentional control linked to catastrophizing in patients with irritable bowel syndrome. British Journal of Health Psychology.
http://doi.org/10.1111/bjhp.12307

Henrich, J. F., Gjelsvik, B., Surawy, C., Evans, E., & Martin, M. (2020). A randomized clinical trial of mindfulness-based cognitive therapy for women with irritable bowel syndrome—Effects and mechanisms. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 88(4), 295–310.
https://doi.org/10.1037/ccp0000483

Henrich, J. F., Gjelsvik, B., Surawy, C., Evans, E., & Martin, M. (2020). A randomized clinical trial of mindfulness-based cognitive therapy for women with irritable bowel syndrome—Effects and mechanisms. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 88(4), 295–310. https://doi.org/10.1037/ccp0000483