Spätmittelalterliche Schuhleisten

Archäologische Schuhleisten-Funde in Hansestädten der südwestlichen Osteseeküste vom 13. bis 16. Jahrhundert als Spiegel des Körperbildes der spätmittelalterlichen städtischen Gesellschaft

Forschungsgegenstand

Stadtarchäologische Grabungen in Deutschland haben in den letzten Jahrzehnten neben Gebäuderesten und alltagskulturellen Gebrauchsgegenständen auch in größerem Umfang Lederreste und Fußbekleidung freigelegt und als wertvolle kulturhistorische Quelle wissenschaftlicher Erforschung zugeführt.

Eine zeitgleich aufblühende experimentelle Archäologie (Vgl. die Arbeiten von Olaf Goubitz, Serge und Maquita Volcken, lnge Fingerlin u.a.) hat dabei zugleich geholfen, die materielle Beschaffenheit der historischen Fußbekleidungsreste genauer zu erforschen, indem sie die Schuhe über experimentelle Nachbauten rekonstruierte.

Auf diese Weise konnte ein erheblicher Zuwachs an gesichertem Wissen über die Modelle und Fertigungstechniken historischer Fußbekleidung, von den frühesten erhaltenen Funden vor etwa 5.000 Jahren bis in die Frühe Neuzeit, gewonnen werden. Vor allem in norddeutschen Hansestädten wurden in den letzten dreissig Jahren (meist bei der Sicherung zugelegter mittelalterlicher Latrinen) dabei auch größere Zahlen von hölzernen Schuhleisten aus Schusterwerkstätten des späten 13. bis frühen 16. Jhd. geborgen.

Anders als die Lederfunde haben diese jedoch bisher keine über die bloße Beschreibung hinausreichende wissenschaftliche Bearbeitung erfahren.

Das darf man angesichts der daraus zu erwartenden Erkenntnisse als Forschungslücke betrachten, die zu bearbeiten, sich die geplante Forschungsstudie zum Ziel gesetzt hat.

Vorgehen, Methodisches

Diese sieht vor, gesamt zirka 80 bis 100 solcher Schuhleisten aus dem genannten Zeitraum spätes 13. bis frühes 16. Jahrhundert genauer zu untersuchen.

Ich möchte mich dabei auf die Hansestädte der südwestlichen Ostseeküste Lübeck, Rostock, Greifswald, Stralsund, Wismar und Kiel konzentrieren, die einerseits einem räumlich und zeitlich klar definierten Kulturraum angehören und in denen diese Schuhleisten andererseits zugleich in nennenswerter Zahl geborgen wurden.

Die Leisten selbst sind in den stadtarchäologischen Sammlungen zusammengeführt und verwahrt. Diese möchte ich besuchen und die Leisten sichten, vermessen und möglichst umfassend dokumentieren.

Dabei ist geplant, die Schuhleisten als unregelmäßig dreidimensionale Körper mit einem mobilen Hochtechnologie-3D-Scanner der Universität Rostock (Medienzentrum ITMZ) elektronisch aufzuzeichnen, mittels skalierter Messpunkte zu beschreiben, tabellarisch zu erfassen und damit für Folgestudien vergleichbar zu machen. Gegebenenfalls können die Leisten-Maße mit virtuellen Fußmaßen von Trägern korreliert werden, um das Ausmaß der Modifikationen an der natürlichen Fußform und den Oberformenden Einfluss des gesellschaftlichen Körperbildes ansatzweise zu beziffern.

Zielsetzung, Forschungsleitfragen

Was kann ein Studium der hanseatischen Schuhleisten leisten?

Schuhleisten sind als „maßgebliches“ Werkzeug zur Herstellung von Schuhen (der Leisten füllt bei der Fertigung den Schuh und gibt diesem seine spätere Form) in mehrfacher Hinsicht aussagekräftig.

Während Schuh- und Lederreste bis auf Ausnahmen nur in zweidimensionaler Form auf uns gekommen sind und nach dem Sohlenschnitt und unter Zuhilfenahme von Bildquellen rekonstruiert werden müssen (experimentelle Archäologie), zeigen uns Schuhleisten (indem man den Schwund einrechnet oder durch Konservierung aufhält) die tatsächliche Form der Schuhe.

Damit geben die Leisten eine direkte Auskunft darüber, wie der Schuh mit dem Fuß/ Körper der Trägerin/ des Trägers interagiert, indem er diesem seinerseits seine Form aufprägt – bis hin zu dem Umstand, dass manche Schuhformen Vorfuß und Zehen – manchmal weitere Partien des Körpers – stark deformieren und nachhaltig schädigen können, wie dies nachweislich (erste spätantike Textquelle und Bildquelle aus dem 4. Jhd. n. Chr.) auch geschehen ist.

Dieses Faktum legt die Frage nahe, wie und warum diese Überformung des Fußes – trotz gesundheitlicher Schädigung – so erfolgte und mitsamt seinen Folgen offenkundig hingenommen wurde. Welches Wissen vom Körper/ der Anatomie und ihren Gesetzen können wir für den Untersuchungszeitraum annehmen? Floss dieses in irgend einer Weise in die Gestaltung der Schuhleisten/ Schuhe mit ein? Gibt es zeitgenössische Texthinweise auf Hühneraugen, Schwielen oder Schiefzehen, die mit der Schuhmode kurzgeschlossen werden können? Welche normativen gesellschaftlichen Vorstellung von Körperlichkeit und Habitus (Körperbild) kamen in der Fußbekleidung „zum Tragen“?

Forschungsstand

Anders als zum mittelalterlichem Schuhwerk, das bereits in zahlreichen Arbeiten untersucht wurde, vorwiegend seitens der genannten experimentellen Archäologie und aus kunsthistorischer Perspektive (Abgleich der Schuhfunde mit anderen Funden und Darstellungen auf Kunstwerken als Zeichen einer kulturellen Ikonografie/ Symbolik und Kleidermode), gibt es zu Schuh/eisten als den Formgebern der Fußbekleidung und ihren konkreten Implikationen für den Körper der Träger aus dem deutschsprachigen Raum für diese Zeit noch keine substanziellen Untersuchungen.

Hier möchte das geplante Forschungsprojekt mit einer interdisziplinären Annäherung ansetzen. Basis der Studie ist die Erfassung der Leisten, für deren weitere Einordnung und Bewertung auch ergänzende schriftliche Quellen und Literatur herangezogen werden.

Die Ergebnisse einer ähnlichen Untersuchung habe ich 2010 im Rahmen meiner Magisterarbeit an der Universität Mainz vorgelegt, für die ich „Die Schuhreform nach Georg Hermann von Meyer (1815-1892)“ im Spiegel der zeitgenössischen Literatur rekonstruiert habe. Gemeint ist die Umstellung/“Reform“ der Fußbekleidung von „schönen“ symmetrischen auf asymmetrische „rationelle“ Leisten- und Schuhformen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Die spätmittelalterlichen Schuhleisten möchte ich einer ähnlichen Sichtung unterziehen und neben den Objekten selbst deren Auswirkung auf den Körper und das gesellschaftliche Kommunizieren über Körper und Habitus beschreiben.

Dahinter steht das Bemühen, weiterreichende Einsichten in die Mechanismen zu gewinnen, die über die Koppelung einer (oft gesundheitsschädlichen) Körperüberformung durch Kleidung und Apparate mit gesellschaftlich wirkmächtigen Körperleitbildern breite Zustimmung und Gefolgschaft erreichen. Oder anders gefragt: Was motivierte die Menschen damals (oft noch heute), Schuhe zu tragen, die nicht zu ihrem Körper passten, ihm sogar schadeten?

Dieses Nachdenken ist u.a. inspiriert von einer neueren Richtung historischer Forschung, die im Deutungsmuster der „symbolischen Kommunikation“ eine Struktur zum Verständnis gesellschaftlichen Handelns erkennt. (Vgl. Althaff, Gerd; Siep, Ludwig: symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution. Der Münsteraner Sonderforschungsbereich 496. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, 3(2001), 210-230). Neuere Arbeiten des Historikers Andreas Mayer und des Althistorikers Jan B. Meister treiben dieses perspektivische Crossover noch weiter voran.

Projektverantwortliche/r

Nike Ulrike Breyer
M.A. Volkskunde, Neuere Geschichte
Dipl.-Modedesignerin I Damenschneidergesellin
35037 Marburg


Publikationen:

Nike U. Breyer (2019) „In Symmetrie zugrunde gehen…“ Überlegung zu einer antiken Proportionslehre, die von der Renaissance bis ins 19. Jahrhundert die Schuhform bestimmte. PDF-Download

Nike U. Breyer (2019) „Gott gab Dir als Lehen die Zehen …“ Dem frühneuzeitlichen Formenwechsel bei Schuhen und Leisten auf der Spur – Metamorphosen eines Forschungsprojekts. PDF-Download