Chronische Schmerzen und Suizidalität im Jugendalter

Chronische Schmerzen stellen weltweit ein ernstes Gesundheitsproblem dar: Etwa ein Fünftel (21%) aller Kinder und Jugendlichen ist davon betroffen. Wenn chronische Schmerzen unbehandelt bleiben, können sie bis ins Erwachsenenalter andauern und neben körperlichem Leiden auch einen erheblichen psychischen Leidensdruck verursachen. Häufig treten chronische Schmerzen mit psychischen Begleiterkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen auf. Obwohl bekannt ist, dass chronische Schmerzen bei Erwachsenen das Suizidrisiko erhöhen können, existieren bisher nur wenige Studien, die diesen Zusammenhang bei Jugendlichen untersuchen.

Zielsetzung
In diesem umfangreichen Forschungsprogramm untersuchte Frau Dr. Verena Hinze an der Universität Oxford den Zusammenhang zwischen chronischen Schmerzen und Suizidalität (d.h. selbstverletzende Gedanken und/oder Handlungen) im Jugendalter.

Zentrale Studienbestandteile des Promotionsstipendiums

Aktueller Wissensstand
Zunächst wurde eine systematische Literaturübersicht bestehender Studien zu chronischen Schmerzen und Suizidalität im Jugendalter erstellt. Die Ergebnisse zeigten, sowohl in bevölkerungsbezogenen als auch in klinischen Studien, einen Zusammenhang zwischen chronischen Schmerzen und Suizidalität im Jugendalter. Gleichzeitig wies jedoch die überwiegende Mehrheit der bisherigen Studien methodische Schwächen auf. Diese Erkenntnis untermauern die dringende Notwendigkeit qualitativ hochwertiger Studien, um diesen Zusammenhang besser zu verstehen und fundierte Handlungsempfehlungen abzuleiten.

Epidemiologische Ergebnisse aus Großbritannien
In zwei unabhängigen Studien mit Jugendlichen in Großbritannien wurde der Zusammenhang zwischen chronischen Schmerzen und Suizidalität genauer untersucht. Die Ergebnisse zeigten, dass viele Jugendliche von anhaltenden oder wiederkehrenden Schmerzen und Suizidalität berichteten: Jede*r Fünfte berichtete entweder von Schmerzen oder von Suizidalität und fast jede*r Zehnte (9%) von sowohl Schmerzen als auch Suizidalität. Besonders auffällig war, dass anhaltende oder wiederkehrende Schmerzen das Risiko für selbstverletzende Gedanken oder Handlungen deutlich erhöhten (mit einem 2- bis 4-fach höheren Risiko) – und zwar unabhängig von depressiven Symptomen. Diese Ergebnisse belegen eindrücklich, dass chronische Schmerzen als ein eigenständiger Risikofaktor für Suizidalität im Jugendalter verstanden werden müssen und dass Jugendliche mit chronischen Schmerzen gezielt Hilfe erhalten sollten.

Nutzung des Gesundheitssystems
Im nächsten Schritt wurde untersucht, inwiefern Jugendliche mit chronischen Schmerzen und/oder Suizidalität Gesundheits- und Sozialdienstleistungen nutzen. Die Ergebnisse zeigten, dass 55% der Jugendlichen in Großbritannien in den letzten drei Monaten Gesundheits- und Sozialdienste in Anspruch nahmen. Dazu gehörten vor allem Besuche beim Hausarzt, ambulante Behandlungen von Verletzungen und Kontakte mit einer Schulkrankenschwester. Jugendliche mit Schmerzen und Suizidalität nahmen diese Dienstleistungen am häufigsten in Anspruch (74%), gefolgt von Jugendlichen mit nur Schmerzen (68%), nur Suizidalität (64%) und Jugendlichen mit weder Schmerzen noch Suizidalität (49%). Diese erhöhte Inanspruchnahme bietet die Möglichkeit, gezielt Hilfe anzubieten. Ein sektorübergreifender Ansatz ist dennoch erforderlich, um eine frühzeitige Risikoerkennung und -bewältigung zu gewährleisten. Es ist jedoch nur wenig darüber bekannt, ob sich diese Ergebnisse auf klinische Stichproben übertragen lassen.

Projektförderung: Situation in einer Schmerzklinik für Kinder und Jugendliche
Eine Beobachtungsstudie wurde durchgeführt, um die Prävalenz von selbstverletzenden Gedanken und Handlungen bei Jugendlichen mit chronischen Schmerzen zu identifizieren und festzustellen, welche Aspekte ihrer Schmerzerfahrung mit einem suizidalen Leidensdruck (suicidal distress) assoziiert sind. Dieser Leidensdruck umfasst hier sowohl die Überzeugung, anderen eine Last zu sein (perceived burdensomeness), als auch Hoffnungslosigkeit sowie selbstverletzende Gedanken und Handlungen. Die Ergebnisse zeigten, dass etwa jede*r zweite Jugendliche mit chronischen Schmerzen in einer Schmerzklinik im Laufe des Lebens selbstverletzende Gedanken und/oder Handlungen erlebt hat und bis zu jede*r Vierte hatte diese Gedanken und Handlungen allein in den letzten zwei Wochen. Bestimmte Aspekte der Schmerzerfahrung waren mit einem erhöhten suizidalen Leidensdruck assoziiert. Dazu zählen zum Beispiel anhaltende Schmerzen mit Schmerzschüben, mehr Schmerzstellen (vor allem weit verbreitete Schmerzen), mehr sensorische und affektive Wörter zur Beschreibung der Schmerzen, mehr schmerzbedingte Einschränkungen (insbesondere im sozialen Leben) und mehr schmerzbedingte kognitive Intrusionen. Darüber hinaus trugen Gefühle von Traurigkeit und Angst zusätzlich zur Intensivierung des suizidalen Leidensdrucks bei. In den Interviews beschrieben Betroffene einen spürbaren Mangel an Verständnis, Mitgefühl und Vertrauen in die medizinische Versorgung. Fehlende Diagnoseklarheit und Behandlungsoptionen vergrößerten ihr Leid zusätzlich. Dies wurde durch die Komplexität ihrer Symptomatik weiter verstärkt. Auch das Unvermögen, an bedeutsamen Aktivitäten teilzunehmen, sowie die Auswirkungen auf ihr Selbstbild (z. B. der Verlust der Kindheit oder das Gefühl, sein volles Potenzial nicht zu erreichen), wurden als stark belastend erlebt.

Implikationen
Die Ergebnisse verdeutlichen die Notwendigkeit einer integrierten körperlichen und psychischen Gesundheitsversorgung sowie regelmäßiger Screenings und systematischer Nachsorge bei gefährdeten Jugendlichen. Ebenso wird die Schulung von medizinischem Fachpersonal und Sozialarbeitern betont, um einen erhöhten suizidalen Leidensdruck bei Jugendlichen mit chronischen Schmerzen frühzeitig zu erkennen. Durch Erkenntnisse über jene Aspekte, die mit suizidalem Leidensdruck verbunden sind, stellt diese Forschung einen wichtigen ersten Schritt dar, um gezielte Behandlungsansätze für Jugendliche mit chronischen Schmerzen zu entwickeln.

Ratschläge zum Leben mit chronischen Schmerzen von und für Jugendliche
In Zusammenarbeit mit Jugendlichen, die selbst von chronischen Schmerzen betroffen sind, wurden eine animierte Videoressource und ein Begleitvideo entwickelt. Ziel ist es, praktische Ratschläge und Erfahrungswissen zum Leben mit chronischen Schmerzen auf Augenhöhe weiterzugeben. Die starke Resonanz zeigt den hohen Bedarf an altersgerechten Ressourcen für junge Menschen mit chronischen Schmerzen und unterstreicht die Bedeutung aktiver Einbindung Betroffener in die Forschung und Wissensvermittlung.

Nächste Schritte
Nicht jeder Jugendliche mit chronischen Schmerzen wird schließlich selbstverletzende oder suizidale Gedanken und Handlungen entwickeln. Umso wichtiger ist es, besser zu verstehen, warum manche Jugendliche kurzfristig und bis ins frühe Erwachsenenalter hinein besonders gefährdet sind. Durch Unterstützung zweier Stiftungen in Großbritannien (Versus Arthritis und Medical Research Foundation), erforscht Frau Dr. Verena Hinze deshalb nun an der Universität Oxford, welche Jugendlichen besonders anfällig sind, wann dieses Risiko am größten ist und welche Faktoren dabei eine zentrale Rolle spielen. Diese Erkenntnisse werden zur Entwicklung wirksamer, zielgerichteter Behandlungsmethoden genutzt.

Dr. Verena Hinze | Universität Oxford | Homepage

 

 

 

 

 

 

 

RELEVANTE PUBLIKATIONEN

  1. Hinze, V., Montero-Marin, J., Gjelsvik, B., Fazel, M., Crane, C., & Jacobs, K. (under review). Prevalence Rates and Correlates of Suicidal Distress in Adolescents with Chronic Pain.
  2. Hinze, V., Karl, A., Ford, T., & Gjelsvik, B. (2023). Pain and suicidality in children and adolescents: A longitudinal population-based study.Eur Child Adolesc Psychiatry, 32, 1507–1517. DOI: https://doi.org/10.1007/s00787-022-01963-2.
  3. Hinze, V., Ford, T., Gjelsvik, B., Byford, S., Cipriani, A., Montero-Marin, J., & Ganguli, P. (2022). Service use and costs in adolescents with pain and suicidality: A cross-sectional study.eClinicalMedicine, 55, e101778. DOI: https://doi.org/10.1016/j.eclinm.2022.101778. *Press release*
  4. Hinze, V., Ford, T., Crane, C., Haslbeck, J.M.B., Hawton, K., The MYRIAD Team & Gjelsvik, B. (2021). Does depression moderate the relationship between pain and suicidality in adolescence? A moderated network analysis. J Affect Disord, 292, 667-677. DOI: https://doi.org/10.1016/j.jad.2021.05.100.
    *Recommended in Faculty Opinions as being of special significance in its field. Katz, J. & Wildeboer, E. Faculty Opinions Recommendation of [Hinze V et al., J Affect Disord 2021 292:667-677]. In Faculty Opinions (10 Mar 2022).
  5. Hinze, V., Ford, T., Evans, R., Gjelsvik, B., & Crane, C. (2021). Exploring the relationship between pain and self-harm thoughts and behaviours in young people using network analysis.Psychol Med, 52, 3560-3569. DOI: https://doi.org/10.1017/S0033291721000295.
  6. Hinze, V., Crane, C., Ford, T., Buivydaite, R., Qiu, L. & Gjelsvik, B. (2019). The relationship between pain and suicidal vulnerability in adolescence: A systematic review.Lancet Child Adolesc Health, 3, 899-916. DOI: https://doi.org/10.1016/S2352-4642(19)30267-6.

Animation:

 

Begleitvideo: